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Studie: wie barrierefrei sind unsere digitalen Verwaltungen

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2021 hat das Kompetenzzentrums Öffentliche IT am Fraunhofer FOKUS eine Kurzstudie zum Thema „Für mehr Barrierefreiheit in der digitalen Verwaltung“ veröffentlicht. In der Studie ist das Kompetenzzentrum der Frage nach der Umsetzungsstand der BITV sowie organisationalen Hürden und mögliche Maßnahmen zur Verbesserung nachgegangen.

Die Einleitung zu den Studienergebnissen liest sich dabei nach fast 20 Jahren BITV fast wie eine Kapitulation. Zitat: „Trotz großer Fortschritte ist die Barrierefreiheit digitaler Verwaltungsangebote auch zwanzig Jahre nach der ersten Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) noch lückenhaft. Denn obwohl sich kaum jemand in den Verwaltungen aktiv gegen Barrierefreiheit ausspricht, wird sie bisweilen dennoch bis zur Nicht-Umsetzung herabpriorisiert.“

Was hemmt die Umsetzug von Barrierefreiheit in der digitalen Verwaltung?

Die Barrierefreiheit von digitalen Verwaltungsleistungen erscheint, so die Studie, auf den ersten Blick wie ein technisches Problem, das sich auch mit technischen Mitteln lösen lässt. Daraus könnte man schlussfolgern, die immer noch häufig mangelhafte Umsetzung der Barrierefreiheit sei als rechtliches Problem zu betrachten, dem sich mit strengeren Gesetzen bzw. deren kontrollierter Durchsetzung begegnen ließe, so die Kurzstudie. Die letzten 20 Jahre haben allerdings gezeigt, eine Verordnung zu erlassen, ist das eine, ihre Umsetzung etwas ganz anderes. Aber warum ist das so? Was hält Behörden und vor allem Dienstleister von Behörden trotz bestehender Gesetze und einem bestehenden Monitoring- und Durchsetzungsverfahren immer noch davon ab, digitale Verwaltungsangebote barrierefrei umzusetzen?

Drei Kategorien von Problemen bei der Umsetzung der BITV

Die Kurzstudie des Kompetenzzentrums Öffentliche IT am Fraunhofer FOKUS hat durch Befragung und Literatur drei Kategorien von Problemen identifiziert:

  1. Mangel an verschiedenen Arten von Wissen
    • Rares Umsetzungswissen in Behörden und bei Unternehmen
    • Wenig Auftraggeber-Kompetenz gegenüber Dienstleistern
    • Kaum Tests zu Barrierefreiheit
  2. Niedrige Priorisierung von Barrierefreiheit
    • Geringes Bewusstsein für Barrierefreiheit
    • Niedrige Priorisierung
    • Knappe Ressourcenplanung
  3. Schwer zu befolgende Regeln die nicht richtig überwacht und durchgesetzt werden
    • Unklare Regeln
    • Uneinheitliche Regeln
    • Weitmaschiges Monitoring
    • Wenig Rechtsdurchsetzung und Sanktionsmöglichkeiten

Das Hauptproblem ist mangelndes Wissen, Halbwissen oder veraltetes Wissen, obwohl deutsche Verwaltungen 20 Jahre Zeit hatten, sich Wissen anzueignen. Die alte Sponti-Parole „Wissen ist Macht, ich weiß nichts, macht nichts“ gilt hier leider nicht. Im Gegenteil. Mangelndes Wissen verhindert nicht nur die Umsetzung digitaler Barrierefreiheit, mangelndes Wissen führt oft direkt zu massiven Barrieren. Die Befragten der Kurzstudie berichteten zum Beispiel, dass auch unter Absolvierenden von Verwaltungshochschulen kaum bekannt ist, wie ein PDF barrierefrei aufbereitet werden kann. Weiter stellt die Studie fest:

Wissen ist bei Verwaltungen und Dienstleistern oft nur bei wenigen beauftragten oder intrinsisch motivierten Einzelpersonen vorhanden.

Neben dem fehlenden Wissen, wirkt sich aber auch die Auftraggeber-Kompetenz gegenüber Dienstleistern negativ aus. Die Studie kommt zu der Einschätzung: „Bei der Beauftragung von Webseiten und Software fehlen in der Verwaltung oft Kompetenzen, um Barrierefreiheit wirksam in Ausschreibungen aufzunehmen und ihre Umsetzung durch Dienstleister zu kontrollieren. (…) Bisweilen vergessen Auftraggeber und Auftraggeberinnen Barrierefreiheit in ihren Ausschreibungen, definieren die Anforderungen zu vage oder setzen widersprüchliche Leistungsvorgaben.“ Ohne Wissen und Erfahrungen im Bereich der digitalen Barrierefreiheit ist es für öffentliche Auftraggeber und Auftraggeberinnen aber praktisch unmöglich, bei Angeboten und erbrachten Leistungen die angemessene Umsetzung der Barrierefreiheit zu bewerten.

Leider muss man aber auch der Kurzstudie des Kompetenzzentrums Öffentliche IT am Fraunhofer FOKUS gewisse Wissenslücken unterstellen. So stellt die Studie fest: „Barrierefreiheit digitaler Verwaltungsangebote ist rechtlich vorgeschrieben, aber die genauen Regeln zur Umsetzung sind oft unklar und uneinheitlich“. Weiter schreibt die Studie: „So unterscheiden sich die Verordnungen zu Barrierefreiheit in der Informationstechnik der Länder untereinander und mit der Novelle der Bundes-BITV wurde der zuvor allgemein anerkannte, punktebasierte BITV-Test ungültig.“ Richtig ist, jedes Bundesland in Deutschland hat ein eigenes Landesgesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2102, aber wirklich alle führen zur technischen Umsetzungsnorm EN 301549. In dieser Umsetzungsnorm stehen auf ca. 200 Seiten präzise Anweisungen, was vor dem Gesetzt als barrierefrei gelten kann. Sonderlocken gibt es – je nach Bundesland – nur in Bezug Forderungen nach Angeboten in Leichter Sprache und in Gebärdensprache. Aber wer hier etwas unsicher ist, welche Regelung in seinem oder ihrem Bundesland gilt, kann sich einfach an die jeweilige Überwachungsstelle des Bundeslandes wenden. Dort findet man juristischen Rat. Ansonsten sollten ja die EU-Richtlinie 2102 und die technischen Umsetzungsnorm EN 301549 in Europa gerade für eine Harmonisierung der Barrierefreiheitsregeln sorgen. Und das ist auch geschehen. Ich glaube einfach, seit 20 Jahren hat man es sich in weiten Teilen zu leicht gemacht und keine Strukturen geschaffen, die digitale Barrierefreiheit unterstützen. Die Studie beschreibt die Stimmungslage in der deutschen Verwaltung so: „Barrierefreiheit ist wie Datenschutz – es nervt“. Da wird es mit der Umsetzung schwer. Und was das angesprochene Punktesystem des alten BITV-Tests angeht, so war das schon immer eine Erfindung der Betreiberfirma (ohne Vorwurf) und leider irreführend – aber als Feigenblatt eine prima Sache. Man konnte wunderbar auf 90 von 100 Punkten zielen und sich auf dem Papier auch mit noch weniger Punkten befriedigender Barrierefreiheit rühmen. Damals hatte die BITV aber auch nur knapp 50 Prüfschritte. Heute sind es fast 100 Prüfschritte. Und im Übrigen soll die EU-Richtlinie 2102 ja eben für Harmonisierung sorgen. Damit nicht jedes Land sein eigenes Punkte- und Bewertungssystem hat.

Falsche Entscheidungen aufgrund niedriger Priorisierung von Barrierefreiheit

Mangelndes Wissen und Unwille sind aber nur eine Facette des Problems. Geringes Bewusstsein für Barrierefreiheit, niedrige Priorisierung aufgrund knapper Ressourcen in öffentlichen Verwaltungen und knappe Ressourcenplanung (sowohl personell, als auch in Bezug auf die Haushaltsplanung) führen ebenfalls zu Barrieren (oder verhindern deren Abbau) und zu falschen Entscheidungen. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass gerade bei Ausschreibungen oft der billigste Anbieter den Zuschlag bekommt. Bei gleicher Qualität wäre das auch sinnvoll. Aber die Qualität muss natürlich vom Auftraggeber bzw. von der Auftraggeberin geprüft werden. Und das ist leider sehr oft nicht der Fall. Wenn wir als Agentur anatom5 zu Ausschreibungen eingeladen werden, schauen wir uns mittlerweile schon sehr genau an, ob wir auf Auftraggeber-Seite Kompetenz in Sachen Barrierefreiheit erkennen können. Oft fragen wir vor Angebotsabgabe auch nach, wie denn die Barrierefreiheit überprüft wird. Wenn dann die Rückmeldung kommt „da müssen wir den Dienstleistern schon vertrauen“, geben wir meist schon gar kein Angebot mehr ab. Wenn andere Dienstleister für digitale Barrierefreiheit ähnlich vorgehen, führt das im schlimmsten Fall leider zu einer qualitativen Abwärtsspirale. Das Problem ist, als Dienstleister, dem Barrierefreiheit seit vielen Jahren ein sehr ernstes Anliegen ist, möchte man halt auch nicht mit Kunden zusammenarbeiten, für die „Barrierefreiheit nur nervt“.

Digitale Barrierefreiheit – was kann man besser machen?

Zum Glück hat die Kurzstudie des Kompetenzzentrums Öffentliche IT am Fraunhofer FOKUS nicht nur Probleme, sondern auch Chancen identifiziert. So ergeben sich aus der Studie folgende Empfehlungen:

  1. Kompetenzen aufbauen
    • Verpflichtende Bildungsangebote und Ausbildungsinhalte
    • Förderlinien für Fortbildungen zu Barrierefreiheit
    • E-Learning-Angebot zu Barrierefreiheit
    • Nationales Kompetenzzentrum zu digitaler Barrierefreiheit in der Verwaltung
    • Mehr Ausbildungsangebote für Barrierefreiheits-Prüfende
  2. Regeln durchsetzen
    • Einheitliche Standards
    • Klagerechte nutzen und schaffen
    • Crowdsourcing und Automatisierung des Monitorings
    • Nationaler Umsetzungsbericht zu Barrierefreiheit digitaler Verwaltungsangebote
    • In Teilhabeprogramme aufnehmen
  3. Bewusstsein schaffen
    • Persönliche Erfahrung mit Barrierefreiheit organisieren
    • Diversität der Belegschaft
    • Schulungs- und Beratungsangebote für Führungskräfte
    • Botschafter:innen-Netzwerk für Barrierefreiheit
  4. Ressourcen bereitstellen.
    • Überblicks- und Einstiegshilfen
    • Staatlich anerkanntes Zertifikat
    • Checklisten, Musterlösungen und Vorgehensmodelle
    • Barrierefreie Frameworks
    • Kartei für Testende mit Behinderung
    • Beratung bei Vergabeentscheidungen
    • Forschungsförderung zur digitalen Barrierefreiheit

Abschließendes Fazit

Digitale Barrierefreiheit bedeutet gesellschaftliche Teilhabe. Obwohl Vorschriften zum Teil seit 20 Jahren bestehen, setzen Verwaltungen diese in weiten Teilen sehr lückenhaft um. Diese Erkenntnis der Kurzstudie deckt sich mit den Ergebnissen des ersten Monitoring-Berichts zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2102 in Deutschland Ende 2021. Die Umsetzung digitaler Barrierefreiheit hat immer noch keine Priorität. Es fehlen in vielen Verwaltungen das Bewusstsein und der persönliche Bezug zum Thema. Gleiches gilt für das notwendige Fachwissen zur Umsetzung digitaler Barrierefreiheit. Und zwar sowohl in Verwaltungen, als auch auf Seiten der Auftragnehmer und Auftragnehmerinnen. Zu viele Auftraggeber handeln nach dem Grundsatz Treu und Glauben. Dass das nicht funktioniert, hat der erste Monitoring-Bericht zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2102 in Deutschland Ende 2021 deutlich gemacht. Es ist daher wirklich wichtig, dass in öffentlichen Verwaltungen – insbesondere auch bei Haushaltsverantwortlichen und anderen Entscheidungstragenden – Bewusstsein, Fachwissen und Ressourcen für die Gemeinschaftsaufgabe digitale Barrierefreiheit aufgebaut werden. Oder wie es in der Kurzstudie formuliert wird:

Kompetenzaufbau und das Bereitstellen von Ressourcen senken den (wahrgenommenen) individuellen Aufwand zur Umsetzung digitaler Barrierefreiheit und wirken so auf die Priorisierung.

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Als Agentur für Universelles Design und Herausgeber des Barrierekompass, hat anatom5 seit 2003 eine weitreichende Expertise im Bereich barrierefreie Informationstechnologie erlangt.

Spezialisierte BITV-Agentur

Die Leistungsfelder umfassen das gesamte Thema Barrierefreiheit nach BITV: Barrierefreies Internet, Barrierefreie PDF, Barrierefreies Responsive Design, Usability & Accessibility Konzeption, Leichte Sprache, Einfache Sprache, UI-Design, BITV-Testing, Schulungen und Workshops.

Ausgezeichnete Barrierefreiheit

Die intensive Beschäftigung mit digitaler Barrierefreiheit spiegelt sich auch in diversen Auszeichnungen wider, die anatom5 seit 2003 erhalten hat, darunter 10 Nominierungen für einen BIENE-Awards der Aktion Mensch.

Digitale Barrierefreiheit