Vorteile von Barrierefreiheit im Internet
Auch wenn es anders vielleicht schöner wäre, das Thema digitale Barrierefreiheit wird hauptsächlich von Gesetzen angetrieben. Das ist in Deutschland so, das ist in Europa so (EU-Richtlinie 2102, Umsetzung der UN Behindertenrechtskonventionen) und das ist auf anderen Kontinenten so, ganz besonders in den USA. In Deutschland treiben die Bundes-BITV und die korrespondierenden Landesverordnungen die digitale Barrierefreiheit an, um entsprechende Forderungen aus Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetzen durchzusetzen. Wenn das Thema Digitale Barrierefreiheit also in den letzten Jahre Fahrt aufgenommen hat, dann nicht aus Gutmenschentum, sondern weil sich Gesetze verschärft haben und Durchsetzungsinstrumente eingeführt wurden. In der Privatwirtschaft wird diese Entwicklung ähnlich verlaufen. Erst wenn der European Accessibility Act auch in deutsches Recht umgesetzt worden ist, wird die Privatwirtschaft auf breiter Ebene reagieren. Das heißt aber nicht, dass digitale Barrierefreiheit im Internet nicht massive Vorteile mitsich bringt.
Vorteil 1: Die UN-Behindertenrechtskonventionen sind auf Ihrer Seite
Natürlich ist es nachvollziehbar, nach zusätzlichen Vorteilen zu suchen, wenn Investitionen getätigt und Haushalte geplant werden müssen, denn Barrierefreiheit kostet nunmal Geld. Deshalb haben wir nachfolgend mal ein paar überraschende Vorteile aufgeschrieben, die Ihnen vielleicht helfen, das Thema Digitale Barrierefreiheit bereits an der Basis zu verankern. Aber vergessen Sie nicht, der offensichtlichste Vorteil Digitaler Barrierefreiheit ist, dass sie Menschen mit Behinderungen zu Ihrem Recht auf Information und Teilhabe verhelfen. Denn laut UN-Behindertenrechtskonventionen ist der Zugang zu Informationen ein Menschenrecht – und die meisten Länder dieser Erde haben das unterschrieben. Auch Deutschland. Gesetze, wie das BGG und die BITV sollen nur dabei helfen, dieses Recht in Behörden, Ministerien und Verwaltungen umzusetzen. Und ab 2025 wird auch die Privatwirtschaft mit dem European Accessibility Act in die Pflicht genommen.
Vorteil 2: Sie setzen deutsches und europäisches Recht um
Seit der Umsetzung der EU-Richlinie 2012 im Mai 2019 verweisen die deutschen Bundes- und Landesverordungen (BITV und Co.) nur noch auf die europäische Norm EN 301549 und sonstige, gültige Industriestandards. Seit die EN 301 549 um die Kriterien der WCAG 2.1 erweitert wurde, gelten für Internetauftritte (auch Intranets und Extranets) und webbasierte Anwendungen die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG AA) in der jeweils aktuellen Fassung. Wenn Sie diese Richtlinien konsequent auf Internetauftritte, Intranets, Extranets oder webbasierte Anwendungen (auch Apps) anwenden, setzen Sie deutsches und europäisches Recht um. Seit Bundes- und Landesbehörden eigene Überwachungsstellen eingerichtet haben, um Barrierefreiheit zu überwachen und durchzusetzen, ist es auf jeden Fall ein Vorteil, wenn Sie deutsches und europäisches Recht umgesetzt haben. Und das gilt natürlich auch für kommende Gesetze, denn mit dem EAA (European Accessibility Act) sind ab 2025 auch viele Player der Privatwirtschaft in der Pflicht. Auch hier kann es sich lohnen, nicht bis zur letzten Sekunde zu warten.
Vorteil 3: Sie erreichen mehr Menschen
Ob Hörbehinderung, Sehbehinderung, motorische Behinderung oder kognitive Behinderung, laut dem Statistischen Bundesamt (Destatis) lebten Ende 2019 alleine in Deutschland fast 8 Millionen schwerbehinderte Menschen, rund 136 000 oder 1,8 Prozent mehr als Ende 2017. Laut European Disability Forum leben in Europa mehr als 50 Millionen Menschen mit einer Behinderung und machen 10 Prozent der Bevölkerung aus. In Amerika sind es sogar über 55 Millionen Menschen. Weltweit geht die World Health Organisation (WHO) von über 750 Millionen Menschen mit Behinderung aus. Das sind gigantische Zahlen, die niemand ignorieren sollte. Laut einer neuen Studie von Click-Away Pound haben britische Einzelhändler im Jahr 2016 schätzungsweise 11,75 Milliarden Pfund (15,5 Milliarden USD) verloren, weil Menschen mit Behinderungen nicht in der Lage waren, ihre Produkte online zu kaufen. Im Jahr 2019 ist die Zahl sogar noch auf 17,1 Milliarden Pfund angestiegen. Mit Barrierefreiheit kann man also Geld verdienen, weil man mehr Menschen erreichen und ggf. die Abbruchrate verringern kann.
Vorteil 4: Höhere Akzeptanz und geringere Abbruchquoten
Viele Anforderungen an Digitalte Barrierefreiheit (auch Barrierefreiheit streng nach BITV- bzw. EU-Richtlinie 2102) beziehen sich auf Aspekte, die bei der Orientierung, Navigation und Fehlervermeidung helfen. Seien es gut sichtbar beschriftete Formularelemente, oder sinnvolle Fehlermeldungen und Eingabehilfen. Oder Minestkontraste für Schriften und interaktive Elemente, wie grafische Buttons oder Input- und Select-Felder. Viele Anforderungen zielen auf erwartungskonformes Verhalten ab. Das bezieht sich zum Beispiel auf eine stringente Navigation oder das Verhalten von interaktiven Elementen, wenn diese den Maus- oder Tastaturfokus erhalten. Und auch die Anforderung für alternative Zugangswege zu sorgen – zum Beispiel mit einer Suchfunktion oder einer Sitemap – zahlen auf dieses Konto ein. Und das ist bei weitem nicht alles: nehmen Sie das Thema Tastaturnutzung (Benutzbarkeit ohne Maus, gut sichtbarer Tastaturfokus) oder die Unterstützung individueller Farb- und Schriftgrößen-Einstellungen. Es gibt sicherlich viele Mythen und Halbwarheiten in Bezug auf die Vorteile Digitaler Barrierefreiheit. Aber höhere Akzeptanz und geringere Abbruchquoten gehören garantiert nicht dazu. Schon gar nicht, wenn Sie neben BITV auch die in der DIN EN ISO 9241 formulierten Leitkriterien für Gebrauchstauglichkeit berücksichtigen.
Vorteil 5: Bessere Unterstützung verschiedener Display-Auflösungen
Zugegeben, nicht jede responsive Seite ist barrierefrei, aber jede Website oder webbasierte Anwendung, die Barrierefreiheit nach den offiziellen Richtlinien anstrebt, muss mit einem flexiblen Layout aufwarten, also responsive sein. Wobei die Forderungen nicht explizit Responisvität verlangen, aber letztendlich kaum andere Lösungen erlauben. Sei es nun 200 und 400 Prozent Zoom bei einer Auflösung von 1280 x 960 Pixel oder die Forderung sowohl Porträt-Modus, als auch Landscape-Modus zu unterstützen. Auch Forderungen, individuelle Einstellungen für Text- und Zeichenabstände zu unterstützen, zielen in diese Richtung. Mehr denn je müssen barrierefreie Websites oder Anwendungen verschiedene Ausrichtungen, extreme Zoom-Level und nutzerdefinierte Einstellung "aushalten". Das Ergebnis ist ganz klar eine bessere Unterstützung verschiedener Monitor- und Display-Größen und Auflösungen durch flexible Layouts.
Vorteil 6: Sie verschaffen sich einen Wettbewerbsvorteil
Digitale Barrierefreiheit alleine ist vielleicht noch kein Wettbewerbsvorteil, aber ein barrierefreies Gesamtkonzept vermutlich schon. Stellen Sie sich zwei mittelgroße Einzelhändler vor, die parallel zu stationären Geschäften auch einen relevanten Online-Umsatz vorweisen. Der eine Einzelhändler hat eine vollkommen unzugängliche Internetseite und bietet in seinem Shop nur Abholung im Laden an. Der Laden hat keine Parkmöglichkeiten, keinen stufenlosen Zugang, keine selbstöffnenden Türen, keine Sitzgelegenheiten, keine bodentiefen Spiegel, keinen Aufzug und keine Rolltreppe, kein rollstuhlgerechtes Ladenlokal, kein behindertengerechtes WC, keine Kartenzahlung und kein NFC- und kein Mobile Payment. Der andere Einzelhändler baut auf eine vollständig barrierefreie Servicekette und sucht ständig nach Möglichkeiten seinen Service zu verbessern. Wer von beiden hat wohl einen Wettbewerbsvorteil? Und all die Dinge, die man rund um einen stationären Handel verbessern kann, kann man auch im Bereich der Digitalen Barrierefreiheit verbessern. Manches liegt dann vielleicht schon im Bereich der Usability, aber letztendlich sind die Grenzen fließend, wenn man mal die reinen Richtlinien außenvor lässt.
Vorteil 7: Sie bauen ein positives Image auf
Auch wenn Zugang zu Informationen ein Menschenrecht ist und Barrierefreiheit eigentlich selbstverständlich sein sollte, eine barrierefreie Servicekette verschafft Ihnen sicherlich auch ein positives Image. Solange Barrierefreiheit nicht fester Bestandteil von jedem Produkt und von jeder Dienstleistung ist, solange können Sie noch auf einen positiven Imagetransfer hoffen. Setzen Sie Inklusion doch als erstes um, nicht als letztes, wenn alle anderen schon die Lohrbeeren geerntet haben. Und warten Sie nicht zu lange. Denn durch den im März 2019 verabschiedeten European Accessibility Act (EAA) werden auch private Unternehmen unter bestimmten Bedingungen ebenfalls zur Barrierefreiheit verpflichtet. Der EAA ist das zentrale Gesetz zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventionen in Europa und die EU-Mitgliedstaaten müssen das Gesetz innerhalb von drei Jahre in die jeweiligen Landesgesetze überführt haben. Danach haben die "betroffenen" Unternehemen nochmal drei Jahre Zeit, die Vorgaben des EAA zu erfüllen. Ab 2025 wird es dann ernst. Und dann lässt sich mit der Umsetzung der gesetzlichen Vorschriften in Bezug auf einen positiven Imagetransfer sowieso kein Blumentopf mehr gewinnen. Warum also so lange warten, wenn das Gesetzt sowieso kommt. Jetzt können Sie noch profitieren. Gerade mittlere und große Unternehmen, die international agieren, sind gut beraten, ihre Aktivitäten in Bezug auf Barrierefreiheit frühzeitig zu verstärken und Prozesse neu zu definieren. Denn die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen muss später tatsächlich auch entsprechend geltender Barrierefreiheitsanforderungen nachgewiesen werden. Sogar die Vergabe des CE-Kennzeichen wird daran gekoppelt sein (§44/45 Seite 25 EAA).
Es gibt aber auch viele Mythen
Mythos 1: Barrierefreiheit ist gut für Suchmaschinen
Der primäre Grund, sich mit dem Thema Digitale Barrierefreiheit zu befassen, ist bei den meisten Menschen erfahrungsgemäß, dass die gesetzlichen Vorgaben von BITV, BayBITV, BbgBITV, HmbBITVO, BITVNRW, BITVRP, ThürBarrWebG und Co. umgesetzt werden müssen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum einige Mythen eine bemerkenswert lange Halbwertzeit haben. Zum Beispiel auch der Mythos Barrierefreiheit sei gut für Suchmaschinen.
"Google ist blind und hat noch nie das Design Ihrer Website gesehen“ – mit dieser Argumentation geistert seit Jahren der hartnäckige Mythos durch das Internet, dass Barrierefreiheit besonders gut für Suchmaschinen sei. Natürlich spielen Semantik und Maschinenlesbarkeit für Google & Co. eine große Rolle und die Aussage „Barrierefreiheit ist gut für Suchmaschinen“ ist nicht völlig falsch. Sie ist aber auch nicht richtiger als die Aussage: „Vier Räder sind gut für Rennautos.“ Wenn sich ein Redakteur oder eine Redakteurin mit Suchmaschinenoptimierung nicht auskennt, dann bringt die technische Grundlage der Barrierefreiheit für Suchmaschinen gar nichts. Leider wird als ein großer Vorteil von Barrierefreiheit im Internet immer wieder das Thema Suchmaschinenoptimierung angeführt. Vermutlich, weil manche Entscheider einen monetarisierbaren Grund für eine Investition in Digitale Barrierefreiheit brauchen. Aber für die Privatwirtschaft steht ja zum Glück der European Accessibility Act vor der Tür. Das macht einige Entscheidungen in Zukunft leichter.
Mythos 2: Barrierefreiheit bedeutet kurze Ladezeiten
Als offizielle Prüfstelle des BIK-Tests und nach unzähligen Accessibility-Audits kann ich sicher sagen, dass Barrierefreiheit nichts mit kurzen Ladezeiten zu tun hat. Kurze Ladezeiten sind zwar wichtig für Barrierefreiheit (insbesondere für Screenreader-Nutzer), aber Barrierefreiheit hat keine Auswirkung auf die Ladezeiten. Kurze Ladezeiten werden von keiner einzigen Richtlinie für Barrierefreiheit gefordert. Eine Webseite mit einer Downloadgröße von 50 Megabyte würde jeden Richtlinientest bestehen. Kurze Ladezeiten sind eine Frage der Usability, nicht der Accessibility. Und Usability verbessert zwar die Accessibility, aber nicht zwingend umgekehrt. Usability-Regeln wenden sich weder speziell an Menschen mit einer Behinderung, noch berücksichtigen sie individuelle Anforderungen, die sich durch eine Behinderung ergeben können. Trotzdem verbessern Usability-Regeln die Zugänglichkeit – gerade weil Sie in den offiziellen Richtlinien für Barrierefreiheit ignoriert werden. Kurze Ladezeiten verbessern also die Zugänglichkeit, sind aber kein Vorteil von Barrierefreiheit.
Mythos 3: Plattform und Browser übergreifende Erreichbarkeit
Das Thema Plattform- und Geräteunabhängigkeit wird immer wieder als Argument für Barrierefreiheit angeführt. Auch hier ist wieder die Frage, wie man Barrierefreiheit definiert?! Streng nach den Richtlinien gibt es keine Vorgabe, wie rückwärts- oder vorwärtskompatibel ein Internetauftritt oder eine Anwendung sein muss. In den Richtlinien gibt es nur wenige Aspekte, die man überhaupt in die Richtung Plattform-, Browser- oder Geräteunabhängigkeit deuten könnte. Dazu zählen folgende Prüfschritte:
Ansonsten lautet die Forderung nur "Maximize compatibility with current and future user agents, including assistive technologies". Gleiches gilt für das Thema Accessibility Supported Technologie: "The WCAG Working group and the W3C do not specify which or how many assistive technologies must support a Web technology in order for it to be classified as accessibility supported."
Welche Browser- und Betriebssystem-Generationen man also unterstützt, liegt im eigenen Ermessen, denn defacto müssen Sie nur aktuelle Browser unterstützen, um den Spezifikationen zu entsprechen. Dass man in den meisten Fällen natürlich trotzdem ein Interesse daran hat, auch ältere Browser und Betriebssysteme zu unterstützen (auch bezogen auf die mobile Nutzung und Smartphones), liegt eher daran, dass man möglichst viele Menschen erreichen möchte. Und natürlich hat das etwas mit Barrierefreiheit und Zugänglichkeit zu tun – aber nicht bezogen auf die BITV oder die zugrunde liegenden Richtlinien, wie die EN 301 549.