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Testen, testen und nochmal testen

Verantwortung für Barrierefreiheit nach BITV – Testen ist Pflicht

Im Rahmen von Ausschreibungen von webbasierten IT-Projekten durch die Öffentliche Hand ist die Anforderung „Barrierefreiheit nach BITV muss erfüllt werden“ mittlerweile Usus. Ebenfalls Usus ist der Preis als ein wichtiges (manchmal auch das einzige) Zuschlagskriterium für einen der Bieter im Ausschreibungsverfahren. Was in anderen Ausschreibungen (zum Beispiel Bau- oder Beschaffungsleistungen von Waren) vielleicht noch Sinn macht und zu vergleichbaren Ergebnissen führen mag, ist im Bereich der Barrierefreiheit nach BITV unrealistisch. Alle Beteiligten müssen Verantwortung für das Thema Barrierefreiheit übernehmen. Das fängt bei der Formulierung eines Anforderungskatalogs und den Ausschreibungsunterlagen an und reicht von der Auswahl des richtigen Dienstleisters bis hin zur Abnahme und Sicherstellung der BITV-Konformität – gegebenenfalls durch einen externen Experten. Und nicht zu vergessen die Qualitätssicherung der Barrierefreiheit bis zum nächsten Relaunch, um wirklich sagen zu können: „Wir haben einen barrierefreien Internetauftritt“.

Das kostet die BITV: Zeit und Geld

Vielleicht hat das Bundesverwaltungsamt ja selbst zu der Erwartungshaltung beigetragen, dass Barrierefreiheit nichts kostet, als es auf seiner Seite schrieb: „Die Kosten für die Umsetzung einer barrierefreien Webseite sind nicht unbedingt höher als die für eine nicht barrierefreie Seite.“ Diese Aussage (allerdings noch im Rahmen der BITV1 getroffen) ist überholt und muss nicht nur vom Bundesverwaltungsamt revidiert werden. Barrierefreiheit nach BITV ist nicht kostenneutral zu bekommen, weder auf Auftragnehmerseite, noch auf Auftraggeberseite.

Gründe für die Kosten: Testen und Qualitätssicherung

Auftraggeber und Auftragnehmer müssen gleichermaßen Know-how erwerben und vorhalten, um Barrierefreiheit nach den Vorgaben der BITV beziehungsweise der WCAG im gesamten Prozess, von der Backend-Technik, über Frontend-Technik, bis hin zur Redaktion langfristig sicherstellen zu können – auch vor dem Hintergrund von Technologie- und Paradigmenwechseln (Stichwort: Mobile First, Responsive Webdesign, HTML5- und CSS3-Features und deren Browser-Unterstützung, Progressive Enhancement, etc.). Wenn Kunden nicht wissen, wie sie Internetseiten auf Barrierefreiheit testen können, wer übernimmt dann die Verantwortung? Auch das eigene Personal muss regelmäßig geschult werden.

BITV auch mobil testen

Die mobile Nutzung macht heute fast 50 Prozent aus. (Zwei junge Leute am Smartphone im Cafe).

Die Anforderungen an barrierefreie Internetseiten, die auch mobil funktionieren, sind enorm gestiegen. Internetseiten und Applikationen sind heute durch den Einsatz von HTML5 und ARIA, CSS3-Features und JavaScript-Anreicherung nicht wirklich einfacher barrierefrei umsetzbar, als HTML 4.01 Auftritte der alten Generation. Im Gegenteil, mehr technische Möglichkeiten bedeutet auch, mehr Möglichkeiten, gravierende Fehler zu machen. Auftritte der alten Generation haben fehlende Struktur-Semantik durch einen in der Regel vergleichsweise einfachen Seitenaufbau kompensiert. Hinzu kam eine strikte Trennung von Inhalt und Design (was in großen Teilen auch den früher fehlenden technischen Möglichkeiten geschuldet war).

Heute sieht das ganz anders aus: Entwickler müssen wissen, wie sie beispielsweise mit Icon-Fonts, CSS-Background-Images, CSS generiertem Content für Pseudo-Elemente, JavaScript-Fallbacks und dergleichen mehr umgehen sollen. Trennung von Inhalt und Design ist eine Herausforderung, wenn immer mehr Inhalte und Pseudo-Funktionen aus dem CSS und JavaScript kommen. Entwickler und Kunden müssen ein Verständnis dafür entwickeln, welche Transformationen (Funktion und Content) zwischen Desktop-Ansicht und mobiler Ansicht von ein und derselben Seite keine Barriere im Sinne der BITV darstellen und welche schon. Auftragnehmer und Auftraggeber müssen sich gleichermaßen mit Assistiven Technologien auskennen, zumindest aber mit denen, die im Prinzip frei verfügbar sind (und somit häufig genutzt werden), wie die gut dokumentierten Screenreader (Sprachausgabe) VoiceOver (iOS) und TalkBack (Android) auf modernen Smartphones.

Wer muss denn was genau testen?

Früher sprachen wir nur von Desktopbrowsern und mussten lediglich ältere Internet Explorer aufgrund mangelnder Webstandard-Unterstützung „mitschleppen“. Heute ist die Gerätelandschaft (Smartphones, Tablets, Laptops, Desktop) mit ihren zahllosen Displaygrößen und Auflösungen um ein Vielfaches komplexer geworden.

Aber die „alten Forderungen“ sind die gleichen geblieben: Nach § 4 BGG Behindertengleichstellungsgesetz (von 2002) sind Internetauftritte und Angebote der Informationstechnik dann barrierefrei, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. Der Knackpunkt ist der Nebensatz „ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe“.

Nachaufnahme einer Braillezeile – digitale Barrierefreiheit und assitive Technologien

Am Beispiel blinder Menschen wird das Problem deutlich. Blinde Menschen nutzen Hilfsmittel wie Screenreader (Sprachausgabe) in Kombination mit einer Brailletastatur, ohne grafisches Eingabegerät, wie beispielsweise eine Computermaus. Selbst wenn ein Internetauftritt mit derartigen Hilfsmitteln grundsätzlich technisch zugänglich ist, muss man für den Zusatz er soll für blinde Menschen „ohne besondere Erschwernis“ nutzbar sein, schon einigen Aufwand betreiben. Berücksichtigt man dann noch die Forderung „grundsätzlich ohne fremde Hilfe“, dann muss ein Internetauftritt, oder eine sonstige Anwendung für blinde Menschen ohne Assistenz verständlich und eigenständig nutzbar sein. Genau das ist aber selten gegeben. Die Orientierung ohne die Hilfe eines sehenden Menschen (Assistenz), auf die blinde Menschen dann zurückgreifen, ist oftmals praktisch unmöglich. Je komplexer ein Internetauftritt konzipiert ist (Stichwort: Mobile First), umso mehr muss jemand diese Aspekte testen. Das ist natürlich zum einen die Agentur, die für die Umsetzung zuständig ist. Es ist aber auch der Auftragnehmer, der für die Abnahme der gelieferten Leistung verantwortlich ist. Und dort wo das nicht sichergestellt werden kann, müsste eigentlich ein externes Audit (Barriere-Check, BITV-Test, etc.) für Sicherheit sorgen.

Bewusstsein schaffen, Zielgruppen kennen

Die BITV ist die Verordnung, die diese Forderung des BGG sozusagen durchsetzen soll. Und dabei ist diese Forderung selbst für Experten nur dann erreichbar, wenn von vornherein alle Anstrengungen darauf ausgerichtet werden.

„Kürzlich habe ich bei einer Ausschreibung für den Relaunch eines Internetportals, in der Barrierefreiheit nach BITV (und 90plus im BITV-Test) gefordert waren, die Rückfrage gestellt, ob denn Redakteure und das Online-Team selbst auch in den redaktionellen Anforderungen an Barrierefreiheit geschult werden würden. Die lapidare Antwort lautete: „Das ist nicht geplant. Dafür steht kein Budget bereit“ erzählt Jörg Morsbach von der Düsseldorfer Agentur anatom5. Auf dieser Basis ist „barrierefreies Internet“ nach BITV dann natürlich kaum realisierbar.

Die Bedeutung von technischen Entwicklungen für die Barrierefreiheit lässt sich nur einschätzen, wenn alle Projektbeteiligten ein grundsätzliches Verständnis von Behinderungsarten und deren Problemen mit der Informationstechnik zumindest in den Grundzügen kennen. Hilfreich in diesem Zusammenhang könnten Personas sein. Personas werden in vielen Bereichen eingesetzt, um Archetypen – hier von Benutzern mit speziellen Behinderungen – zu definieren und greifbarer zu machen. Eine Zusammenstellung von „Benutzern mit speziellen Behinderungen“ finden Sie auf Englisch bei Open Accessibility Everywhere.

Fazit: Barrierefreies Internet muss man testen

Falls jetzt der Eindruck entstanden ist, dass die Umsetzung eines barrierefreien Internetauftritts kaum machbar ist, so ist dies natürlich falsch. Die Quintessenz ist, es ist kein Selbstläufer. Um Barrierefreiheit und die Funktionsweise von barrierefreien Anwendungen wirklich zu verstehen, erfordert es in der Tat umfangreiche Kenntnisse in HTML, CSS, JavaScript, DOM-Baum Rendering, Accessibility APIs, Assistiven Technologien und Erfahrung, wie Menschen mit Behinderungen Informationstechnologie nutzen. Aber es gibt ein paar einfache Tests, die wirklich jeder durchführen kann. Analysieren Sie vermeintlich barrierefreie Internetauftritte mit ganz einfachen Tests. Wir haben Ihnen dafür eine gut nachvollziehbare Anleitung zum Testen erstellt. Wenn Sie die acht einfachen Tests nicht alle mit einem eindeutigen „Daumen hoch“ positiv bewerten können, sollten Sie vielleicht zusätzlich noch einen externen BITV-Tester beauftragen. Denn die acht Tests sind sozusagen die Basics.