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Erster Monitoring-Bericht Umsetzung der EU-Richtlinie 2102 in Deutschland

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Einen Tag vor Weihnachten hat die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund) den ersten Bericht über den Stand der Barrierefreiheit von Webauftritten und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen veröffentlicht. Der Bericht umfasst den Zeitraum vom 01. Januar 2020 bis zum 22. Dezember 2021 und stellt eine erste Bestandsaufnahme dar, inwieweit die gesetzlichen Barrierefreiheitsanforderungen durch die Öffentliche Hand eingehalten wird. In Ihrer Pressemitteilung vom 23.12.2021 schreibt die Bundesfachstelle Barrierefreiheit:

In Zusammenarbeit mit den Überwachungsstellen der Länder hat die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund) in einem durch die Europäische Kommission klar definierten Verfahren, Webauftritte und mobile Anwendungen dahingehend überprüft, inwieweit diese der seit dem 23. September 2020 geltenden Verpflichtung zur Barrierefreiheit genügen.

Monitoringverfahren im Rahmen der EU-Richtlinie 2102

Insgesamt wurden im Untersuchungszeitraum knapp über zweitausend Websites, Webanwendungen und Dokumente geprüft. Im Einzelnen wurde im Rahmen des Monitoringverfahrens folgendes untersucht.

  • 1762 Webauftritte mit der Methode der vereinfachten Überwachung,
  • 130 Webauftritte mit der Methode der eingehenden Überwachung,
  • 57 mobile Anwendungen mit der Methode der eingehenden Überwachung sowie
  • 65 manuelle Prüfungen von Dokumenten im Rahmen der eingehenden Überwachung

Ergebnis des ersten Monitoringberichts zur BITV

Nennen Sie mich zünisch, aber das Ergebnis des ersten Monitoringberichts über den Stand der digitalen Barrierefreiheit in Deutschland ist leider weder überraschend noch positiv. Die Bewertungsmethode, ab wann die getestete Stichprobe als nicht barrierefrei gilt, ist dabei durch das Testverfahren vorgegeben und für alle gesetzlich zur Barrierefreiheit Verpflichteten in ganz Europa gleich. Um das klarzustellen, die BITV als solches gibt es in Deutschland bereits seit 20 Jahren. Die EU-Richtlinie 2102 dient nur der Vereinheitlichung der Barrierefreiheitsstandards in der EU und damit auch in Deutschland. Das heißt wer zur Barrierefreiheit verpflichtet ist, ist das schon seit 20 Jahren. Aber der Reihe nach. Das BFIT stellt in ihrem Monitoringbericht zur BITV folgendes fest (Zitat):

In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass kein Webauftritt und keine mobile Anwendung gleichzeitig alle der geforderten Anforderungen erfüllen konnte. Jedoch bedeutet dies nicht, dass die getesteten digitalen Objekte nicht nutzbar wären. Auch wenn einzelne Anforderungen nicht erfüllt werden, so sind in der Regel die Webauftritte und mobilen Anwendungen weiterhin gut nutzbar. Auch betreffen einzelne Anforderungen spezielle Nutzergruppen. Die vorgefundene Nicht-Erfüllung einzelner Anforderungen ist folglich sehr konkret und gibt wichtige Hinweise, wie die vorgefundenen Barrieren beseitigt werden können. Somit kann eine vollständige Barrierefreiheit und Konformität in der Regel gut hergestellt werden (Zitat Ende).

Zu den am häufigsten Barrieren zählen laut Bericht:

  • Visuelle Informationen, die für Screenreader-Nutzende nicht zugänglich waren
  • Keine oder begrenzte Tastaturbedienung (ohne Maus also nicht nutzbar)
  • Nicht-Text-Inhalte, die für Menschen mit Seheinschränkungen nicht wahrnehmbar waren

Anwendungen weiterhin gut nutzbar?

Wer sich etwas mit der Materie auskennt, weiß, dass die Aussage „Auch wenn einzelne Anforderungen nicht erfüllt werden, so sind in der Regel die Webauftritte und mobilen Anwendungen weiterhin gut nutzbar“ vor dem Hintergrund der oben genannten, häufigsten Barrieren, eigentlich ein Scherz ist. Als BITV-Tester im BIK BITV-Test Prüfverbund kann ich sagen, dass „keine oder begrenzte Tastaturbedienung“ für blinde und stark sehbehinderte Menschen eine massive Barriere darstellt. In vielen Fällen führt „keine oder begrenzte Tastaturbedienung“ ohne Computermaus zur Unbedienbarkeit. Übrigens auch für viele andere Menschen, die keine Computermaus benutzen können, zum Beispiel aufgrund einer motorischen Behinderung. Was soll also die Aussage, alle geprüften Seiten wären „weiterhin gut nutzbar“? Für die betroffen Zielgruppen muss das wie Hohn klingen. Zumal die Anforderungen der BITV nur die absoluten Mindestanforderungen darstellen, die vollständig zu erfüllen sind.

Gebäude nicht barrierefrei – aber weiterhin gut nutzbar?

Man stelle sich das bei nicht barrierefreien Gebäuden vor. Enge Drehtüren, Treppen (fehlende Aufzüge) und zu schmale Durchgänge sowie rutschige Böden und fehlende taktile Beschriftungen machen das Gebäude zwar für viele Menschen unzugänglich, aber im Großen und Ganzen ist das Gebäude „weiterhin gut nutzbar“. Ganz ehrlich, hier hat doch jemand das Konzept nicht verstanden, oder?

Methode der vereinfachten Überwachung

Die Aussage, alle geprüften Seiten wären „weiterhin gut nutzbar“ wird noch unverständlicher, wenn man bedenkt, dass mit der Methode der vereinfachten Überwachung aus praktischen Gründen gar nicht alle Prüfschritte der BITV beziehungsweise alle Anforderungen der EN 301549 geprüft werden. Welche Prüfschritte genau geprüft werden, ist nach meinem Kenntnisstand geheim, damit nicht auf diese reduzierte Auswahl hin optimiert wird. Insgesamt beinhaltet der BITV-Test aber mittlerweile 92 Prüfschritte und die Methode der vereinfachten Überwachung prüft nach meinem Kenntnisstand davon nur 20 BITV- bzw. WCAG-Prüfschritte (plus vier Sonderprüfschritte, die sich auf Leichte Sprache, Gebärdenvideos, die Erklärung zur Barrierefreiheit und PDF beziehen). Die traurige Erkenntnis, dass „kein Webauftritt und keine mobile Anwendung gleichzeitig alle der geforderten Anforderungen erfüllen konnte“ basiert also nur auf dieser abgespeckten Auswahl. Wenn alle Prüfschritte geprüft worden wären, wäre das Ergebnis noch desaströser ausgefallen. Keine Frage.

Die Kollegen von DIAS (BIK BITV-Test Prüfverbund) haben bereits 2019 unter dem Titel „Unsere Experten diskutieren die „Vereinfachte Überwachung“ im Kontext der Überwachungsmethodik“ einen ausführlichen Artikel über die damals noch in der Planung befindliche „Vereinfachte Überwachung“ geschrieben. Es geht darin vor allem um die Frage, wie mit der Methode der vereinfachten Überwachung valide Testergebnisse erzielt werden können und welche Gefahren verschiedene Methoden, wie beispielsweise die rein automatische Prüfung von Teilaspekten der Barrierefreiheit, mit sich bringen.

Erkenntnisse aus der vereinfachten Überwachung

Wenn man es positiv betrachten will, kann man festhalten, dass die Methode der vereinfachten Überwachung derzeit ausreicht, um festzustellen, dass „kein Webauftritt und keine mobile Anwendung gleichzeitig alle der geforderten Anforderungen erfüllen konnte“. Wenn man es etwas neutraler sehen will, dann waren die Ergebnisse der vereinfachten Überwachung so offenstichtlich, dass eine vollständige Prüfung mit einer deutlich tiefergehenden Analyse mit viel mehr Fachwissen gar nicht notwendig war.

Da ich selbst schon einige Prüfberichte von Überwachungsstellen aus verschiedenen Bundesländern zugesicht bekommen habe (von Kunden und von öffentlichen Stellen, die im Rahmen des Monitorings geprüft wurden und deshalb Hilfe suchten), konnte ich mir auch über die Tiefe der Prüfung (und die Qualität) ein ziemliches gutes Bild machen. Und ich kann ziemlich sicher sagen, dass gerade die erfahrungsgemäß hakeligeren Prüfschritte, wie „9.4.1.2 Name, Rolle, Wert verfügbar“ oder „9.1.4.13 Eingeblendete Inhalte bedienbar“ oder „9.2.5.3 Sichtbare Beschriftung Teil des zugänglichen Namens“ bei der vereinfachten Überwachung keine Rolle gespielt haben. Aber gerade in diesen Bereichen treten oftmals die massivsten Barrieren auf. Vor diesem Hintergrund macht mich die völlig unbegründete Aussage, alle geprüften Seiten seien „weiterhin gut nutzbar“ wirklich wütend.

Von 78 WCAG 2.1 AA Kriterien 20 getestet

Um das auch Menschen etwas klarer zu vermitteln, die nicht so tief in der Materie stecken, die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) enthalten zum aktuellen Zeitpunkt 78 Erfolgskriterien (ohne Konformitätskriterien). Davon wurden im vereinfachten Verfahren nur 20 Erfolgskriterien geprüft. Das macht auch durchaus Sinn, denn die vereinfachten Überwachung soll ja nicht Konformität bestätigen, sondern auf Basis einer Art Due Diligence Bewertung eine belastbare Annahme treffen. Das hat auch funktioniert, denn man war ja in der Lage festzustellen, dass „kein Webauftritt und keine mobile Anwendung gleichzeitig alle der geforderten Anforderungen erfüllen konnte“. Bis dahin gibt es von meiner Seite auch keine Kritik. Auf der Bewertungsbasis aber pauschal festzustellen, alle geprüften Seiten seien „weiterhin gut nutzbar“, geht einfach nicht.

WCAG sind nur für Menschen mit Behinderung gemacht  

Von 78 WCAG 2.1 AA Kriterien wurden in der vereinfachten Überwachung also nur 20 getestet. Soweit so gut. Die für die Bewertung der Barrierefreiheit relevante EU-Norm 301549 beinhaltet aber noch weitere Anforderungen, weshalb der BITV-Test mittlerweile auf über 90 Prüfschritte kommt. Aber jetzt kommt das Wichtigste: die WCAG sind nur für Menschen mit Behinderung gemacht. Zitat

There are many general usability guidelines that make content more usable by all people, including those with disabilities. However, in WCAG 2.0, we only include those guidelines that address problems particular to people with disabilities. 

Die meisten wissen das sicherlich nicht. Aber dieser Satz zeigt, bei den WCAG geht es überhaupt nicht um eine „allgemein gute Nutzbarkeit“. Eine allgemein gute Nutzbarkeit hat mit Usability zu tun, also mit der Gebrauchstauglichkeit für Menschen ohne Behinderung. Hier geht es aber um Menschen mit einer Behinderung. Wenn man also von 78 WCAG 2.1 AA Kriterien nur 20 Kritieren prüft, müssen alle geprüften Seiten diese Mindestanforderungen erfüllen. Nur dann besteht überhaupt eine Chance (Due Diligence), dass auch die restlichen 58 Kriterien möglicherweise erfüllt wurden – von normalen Flüchtigkeitsfehlern mal abgesehen. Letztendlich heißt doch die Aussage, dass  alle geprüften Seiten „weiterhin gut nutzbar“ seien nur, dass dies wie immer für Menschen ohne Behinderung gilt. Für Menschen mit Behinderung gilt das explizit nicht, denn das Ergebnis des ersten Monitoring-Berichts besagt ja, „dass kein Webauftritt und keine mobile Anwendung gleichzeitig alle der geforderten Anforderungen erfüllen konnte“.

Aus meiner Sicht muss der Bericht korrigiert werden. Die Aussage: „Auch wenn einzelne Anforderungen nicht erfüllt werden, so sind in der Regel die Webauftritte und mobilen Anwendungen weiterhin gut nutzbar. Auch betreffen einzelne Anforderungen spezielle Nutzergruppen.“ ist irreführend und aus den genannten Gründen falsch. Nicht einzelne, sondern alle geprüften Anforderungen betreffen spezielle Nutzergruppen, das ist der Sinn der WCAG. Natürlich sind fast alle Internetseiten und Apps für Menschen ohne Behinderung in der Regel gut nutzbar. Weil das eben für Menschen mit Behinderung so pauschal nicht gilt, gibt es die gesetzlichen Anforderungen, die umgesetzt werden müssen. Das nennt sich Teilhabe. Und das ist ein Grundrecht.

Wie weit wir noch hinterher hinken zeigt auch ein Blick auf die Testergebnisse für PDF-Dokumente, die ebenfalls barrierefrei sein müssen. Wenn ich den Prüfbericht richtig verstanden habe, sind in den meisten Fällen gerade mal 10 Prozent der geprüften Dokumente überhaupt barrierefrei gewesen. Das deckt sich auch mit meinen Erfahrungen.

Den gesamten Prüfbericht können Sie sich beim BFIT, der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik herunterladen.  

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