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Niemand braucht Barrierefreiheit, oder: Offener Brief an Herrn X aus Y

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Unzählige Male habe ich Menschen zugehört, die ihre Sichtweise von Barrierefreiheit geäußert haben. Manchmal habe ich E-Mails erhalten oder Beiträge gelesen, in denen der gleiche Tenor mitschwang: Niemand braucht Barrierefreiheit und wenn doch, dann sollen das gefälligst die Software-Hersteller regeln. Lieber Herr X aus Y, dieser Brief ist für Sie.

Unzählige Male habe ich Menschen zugehört, die ihre Sichtweise von Barrierefreiheit geäußert haben. Manchmal habe ich E-Mails erhalten oder Beiträge gelesen, in denen der gleiche Tenor mitschwang: Niemand braucht Barrierefreiheit und wenn doch, dann sollen das gefälligst die Software-Hersteller regeln. Lieber Herr X aus Y, dieser Brief ist für Sie.

Sehr geehrter Herr X aus Y,

der Gleichberechtigung wegen muss ich Sie an dieser Stelle auch Frau Y aus X nennen, aber ich habe mir erlaubt, für den Rest des Briefes die herrliche Anrede zu wählen und auf die dämliche Form zu verzichten, das liest sich mit Screenreadern sonst immer so schlecht. Ach ja: Screenreader brauchen blinde und stark sehbehinderte Menschen, um Websites zu erfassen, denn nicht jeder surft so unbeschwert durch das Web, wie Sie es tun.

Für Sie zählt der Spaßfaktor, da stören die Behinderten bloß. Sie wollen uneingeschränkten Genuß, da darf es dann auch gerne mal ein wenig mehr sein. Mehr sinnlose Intros, mehr JavaScript-Spielereien, mehr Regenbogenfarben: Ihr Leben ist das reinste Glücksbärchi-Land. Sie surfen stets auf der neuesten Welle, haben alle Erweiterungen für ihren Lieblings-Browser installiert und selbstverständlich folgen Sie dem Trend zum Zweit-Browser, um ja nicht die nächste Sau zu verpassen, die durch das Internet-Dorf getrieben wird. Wo war ich stehen geblieben? Richtig − bei den doofen Behinderten, die ihnen den Spaß am Surfen verderben, weil sie nicht ordentlich weggesperrt werden oder mit einer Nur-Text-Version abgespeist werden, wie das damals war, bevor dieser ganze liberale Gleichstellungskram die Spaßgesellschaft ausgebremst hat.

Sie fragen sich, was Behinderte eigentlich im Internet zu suchen haben und bemühen dazu jeden noch so billigen Vergleich. Blinde, die mit dem Auto fahren sind ihnen da ebenso willkommen, wie geistig behinderte Menschen, die eine Physikabhandlung des aktuellen Nobelpreisträgers lesen möchten. Und wenn das alles noch nicht reicht, bemühen Sie die Mehrfach-Behinderten, denn damit kann man garantiert jedes Argument des Gegenüber totschlagen. Aber mit Argumenten haben Sie sich ohnehin noch nie lange aufgehalten, Sie profitieren von solidem Halbwissen.

Für Sie ist das W3C mit seinen Standards an allem Schuld. Oder zumindest ist es total unfähig, denn es konnte nicht verhindern, dass Websites nicht aus jeder beliebigen Anwendung rausgeschossen werden können, sondern bestimmte Standards genutzt werden müssen, damit die Seiten auch am anderen Ende der Leitung beim Benutzer gut aussehen. Und unter Benutzer verstehen Sie natürlich den exemplarischsten Nutzer schlechthin: Sich selbst. In Ihrer Vorstellung hat jeder einen schicken und superschnellen Desktop-PC mit großem Flachbild-Monitor, vielleicht sogar zwei davon, wir haben ja alle Spaß am Surfen. Ihre Nutzerschaft weiß über alle Maße Bescheid und kennt sämtliche Winkel des Browsers in- und auswendig, natürlich auch alle Erweiterungen, mit denen das Surfen noch spaßiger und bunter wird.

Warum also sollten Webworker allen Ernstes versuchen, Farbkontraste so zu optimieren, dass Menschen mit Sehbehinderung die Inhalte auch erfassen können? Und wozu dieser unsinnige Schriftgrad- oder Stylesheet-Switcher? Das kann man doch alles auch über den Browser regeln, wenn man nicht ganz blöd ist. Hätte ich fast vergessen: Blöd sein darf man nämlich auch nicht! Und dumm sind immer nur die Anderen: Die Browser-Hersteller, weil sie die Barrierefreiheit nicht vollständig automatisiert haben und das, obwohl man wirklich alles über irgendwelche Erweiterungen oder Standardfunktionen regeln kann. Und auch die Nutzer sind Schuld, weil sie sich für dumm verkaufen lassen und diese unsäglichen barrierefreien Angebote vorgesetzt bekommen, die in jedem Fall so häßlich sind, dass man sie nicht wieder aufrufen möchte. Schuld sind aber vor allem die Webdesigner und Agentur-Fuzzis, die Dogmatiker der Barrierefreiheit, die Inquisitoren der Webstandards und die Spaßbremsen des Web 2.0 und des akuten Klickibunti. Ja, Schuld sind immer nur die Anderen.

Das wäre ja vielleicht alles noch erträglich, aber Barrierefreiheit kostet ja auch übermäßig viel. Und es ist zudem viel zu anstrengend, weil Dinge eingefordert werden, die schlichtweg unmöglich sind. Da bemühen Sie noch flugs die Quadratur des Kreises, ziehen über die Theoretiker beim W3C und die Behindertenverbände und gewinngeile Agenturen her und werfen das alles in einen Topf. Niemand braucht Barrierefreiheit − wir brauchen einfach bessere Software und kreativere Designer. Beides zusammen fördert den Spaß am Internet und wenn man den doofen Behinderten per Gesetz verbietet, daran teilzuhaben, dann wird alles gut. Für Sie.

Fast hätte ich es vergessen: Sie sind dem Thema Internet nicht nur privat, sondern auch beruflich verpflichtet. Deshalb sind Sie Experte und haben auf jede Frage eine fundierte Antwort. Aktiv würden Sie Barrierefreiheit zwar nie bewerben, aber wenn ein potentieller Kunde fragt, dann haben Sie selbstverständlich jede erdenkliche Qualifikation und obendrein noch ein paar sensationelle Ideen für zusätzliches Klickibunti. Alles barrierefrei, alles super und verpackt in ein fixes Layout mit absoluten Schriftgrößen, der Browser regelt das schon alles. Natürlich etwas teurer, weil Barrierefreiheit ja immer etwas mehr kostet, aber bei Ihnen sieht es wenigstens toll aus: Barrierefrei und Spaß dabei.

Möglicherweise ist Ihnen der sarkastische Unterton meines Briefes entgangen und Sie haben herzhaft "Ja!" gerufen bei jeder Aussage. Womöglich haben Sie den Brief aber auch nie gelesen, weil er ja auf einer barrierefreien Seite steht und Ihr Browser darauf getrimmt ist, valide Websites zu ignorieren und Sie warnt, wenn eine Website ohne Flash ausgeliefert wird. Falls Sie den Brief doch lesen, dann dürfen Sie jetzt fast durchatmen, denn das Ende ist nah.

Sie haben nämlich rein gar nichts verstanden. Vielleicht lesen Sie mal den Beitrag "Eine Ermunterung in zwölf Schritten und mit drei Faustregeln" von Sigrid Arnade und H.-Günter Heiden aus dem Buch "Das barrierefreie Museum − Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit" und vielleicht auch die angeschlossenen Kapitel. Sie werden überrascht sein, von wieviel Barrierefreiheit Sie im Alltag umzingelt sind. Möglicherweise verstehen Sie dann, dass es keine Checkliste zum Abhaken gibt und auch kein Patentrezept. Viele Wege führen zum Ziel. Und das lautet nicht Barrierefreiheit, denn niemand braucht Barrierefreiheit. Was wir wirklich brauchen, ist eine verbesserte Zugänglichkeit. Machen Sie sich einfach mal auf den Weg, auch wenn es kein Ziel gibt. Sie werden wundervolle Weggefährten kennenlernen, Stolpersteine entdecken, sich den Zeh anstoßen, vom Weg abkommen und wundervolle Dinge auf Ihrer Reise erleben. Irgendwann kommen Sie an und wollen nur eines: Sofort wieder los, weil Sie das Unbekannte lockt.

Herzlichst,

Ansgar Hein

Nach Diktat verreist.

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